Lilith hörte die Männer, bevor sie sie sah. Es waren die, die jeden Abend kamen, um sich zu besaufen und die Weiber zu begaffen.
»Hey«, rief einer von ihnen, »fünf Scutten!«
Auf dem Weg zu ihrem Tisch erblickte Lilith einen jungen Mann, der sich suchend im Raum umsah. Sie lächelte ihn freundlich an. »Kann ich dir helfen? Du siehst etwas verloren aus.«
Er zog hilflos die Schultern hoch. »Ich wollte mich hier mit jemandem treffen. Aber sie scheint nicht gekommen zu sein.«
Lilith lächelte mitfühlend. »Setz dich doch erst mal hin und warte noch ein bisschen. Vielleicht ist ihr nur etwas dazwischengekommen und sie taucht später auf. Da hinten« sie zeigte in eine kleine etwas abgelegene Nische, in der nur zwei Tische standen »sind ein paar nette Plätzchen etwas abseits von den Rüpeln hier.« Sie zwinkerte ihm zu. »Wenn du willst, bring ich dir noch eine Kerze, damit es etwas gemütlicher ist, wenn nachher deine Begleitung noch auftaucht.« Sie lachte. »Es sei denn natürlich, du möchtest dich lieber zu ihnen gesellen.« Beide schauten in Richtung der fünf Männer, die sich lautstark grölend über die anwesenden Frauen unterhielten. Der junge Mann schnaubte. »Ganz bestimmt nicht. So tief will ich heute nicht sinken.« »Gute Einstellung«, erwiderte Lilith lobend. »Mit denen ist es nicht leicht auszukommen.« Sie sahen zu, wie einer der Männer einer vorbeigehenden jungen Frau rüde auf den Hintern klatschte. Liliths Augen verengten sich.
Als er merkte, dass er beobachtet wurde, rief der Mann unwirsch: »Hey! Wo bleiben die Getränke? Seit wann gehört es denn zu eurem Service, uns so lange warten zu lassen? Und privaten Klatsch mit solchen Kerlen da zu machen?«
Lilith versteifte sich. »Es gehört zu unserem Service, jedem Gast freundlich und entgegenkommend gegenüberzutreten.« Sie schenkte dem Mann ein übertrieben freundliches Lächeln. »Bei Eurem Ton könnte es allerdings sein, dass ich mich vergesse und gleich versehentlich etwas ganz anderes klatscht.« Sie schaute den jungen Mann entschuldigend an. »Ich komme gleich zu Euch.«
Er nickte verständnisvoll. »Kümmert Euch ruhig zuerst um die Herrschaften da drüben, nicht, dass sie noch Ãrger machen. Ich habe ja Zeit.«
Lilith verzog abschätzig den Mund. »Der Ãrger ist auch so garantiert.« Damit drehte sie sich um und stellte das Tablett mit den fünf Gläsern auf den schweren Holztisch der Männer.
Als sie nach einigen bissig hin und hergeworfenen Bemerkungen wieder am Tresen stand, seufzte sie. Heute hatte sie wirklich noch weniger Lust auf solche ungehobelten Typen. Nicht, dass sie selbst immer die Höflichkeit in Person war. Sie sagte meist, was sie dachte, und das brachte ihr nicht immer Wohlwollen ein. Aber solange man sich ihr gegenüber freundlich verhielt, war alles in Ordnung. Diese Kerle jedoch waren nur auf Streit aus und es war unakzeptabel, wie sie sich anderen und besonders Frauen gegenüber verhielten.
Nachdem der Abend eine Weile so verlaufen war wie die meisten Abende in dieser Schänke, fand sie eine ruhige Minute, um sich zu dem jungen Mann zu gesellen, der immer noch allein in seiner Ecke saß.
»Na«, sagte sie, »kein Glück gehabt?«
Er grinste sie schief an. »Das kommt ganz darauf an.«
Sie hob eine Augenbraue. »Ganz bestimmt. Worauf genau in diesem Fall?«
»Ob man mein allgemeines Glück bei den Frauen oder diesen speziellen Abend betrachtet«, erwiderte er mit einem charmanten Lächeln.
Lilith lachte verblüfft. »Wo du doch versetzt wurdest?«
Er zuckte lässig die Schultern und seine dunklen Haare fielen ihm in die Augen. »Nur um in den Genuss Eurer Gesellschaft zu kommen.«
Sie schüttelte lachend den Kopf. »Was genau man an mir hat, konntet Ihr in so kurzer Zeit noch gar nicht erfahren.«
»Oh, glaubt mir«, erwiderte er mit einem Grinsen, »an der Universität lernt man es auch, Menschen gut einzuschätzen. Darin dürfte ich inzwischen ganz gut sein.«
Die Universität! Sie hatte schon immer mehr darüber erfahren wollen, etwas, das über allgemeine Berichte und Geschichten hinausging. Mit jemandem reden, der persönliche Erfahrungen hatte. Gerade wollte sie ihn genauer danach fragen, als ein Ruf vom Tresen sie unterbrach.
»Lilith!«, erklang die leicht genervte Stimme des Wirts. »Die Herren da drüben sitzen auf dem Trockenen!«
»Kann ihnen mal nicht schaden!«
»Lilith!« Es mischte sich etwas Wut in seine Stimme.
Sie verdrehte die Augen und erhob sich. »Tja«, sagte sie, »ich würde auch noch etwas bleiben... aber ich glaube, du bist nicht so scharf darauf, dass die Typen am Ende noch zu uns kommen. Tut mir Leid. Vielleicht finde ich nachher noch mal ein paar freie Minuten.«
Er winkte ab. »Mach nur. Ich kann warten. Ich hab ja den ganzen Abend frei, da er ja eigentlich für etwas anderes geplant war.«
Sie grinste ihn noch einmal schief an und beeilte sich dann, den Bestellungen nachzukommen. Der Abend hatte nicht schlecht angefangen. Wenn sie dem Ãrger heute einmal aus dem Weg ging und nachher noch einmal mit dem netten dunkelhaarigen Mann sprechen und ihn ausfragen konnte, standen die Chancen nicht schlecht, dass er noch richtig gut wurde.
Die Schänke füllte sich immer mehr und Lilith hatte nun alle Hände voll zu tun. Ab und zu konnte sie einen Blick auf ihren Gesprächspartner von vorhin werfen und war erleichtert, als sie ihn immer noch dasitzen sah. Nach einer Weile hatte sich ein anderer Mann in seinem Alter zu ihm gesellt und sie unterhielten sich nachdenklich.
Als sich der Gastraum endlich etwas geleert hatte und sie zu ihnen gehen wollte, waren sie verschwunden.
Sie seufzte in einer Mischung aus Enttäuschung und Wut darüber, dass sie nun nicht noch einmal mit ihm hatte sprechen können.
Dann erblickte sie ein Buch, das dort lag, wo er gesessen hatte. Sie beschloss, es erstmal mit in ihr Zimmer zu nehmen.
Am nächsten Morgen erwachte sie spät. Es dauerte eine Weile, bis sie in ihrer Müdigkeit begriff, dass heute ihr lang ersehnter freier Tag war, an dem der Wirt zu irgendeinem Fest eingeladen und das Gasthaus somit geschlossen war.
Als sie ihre Beine aus dem Bett schwang und sich die müden Augen gerieben hatte, fiel ihr verschlafener Blick auf einen Gegenstand auf ihrem Schreibtisch, der dort nicht hingehörte.
Nach einem kurzen Moment erkannte sie das Buch, das sie am vorigen Abend dort hingelegt hatte. Erst jetzt fand sie Gelegenheit, es etwas genauer zu betrachten. Es machte nicht viel her; ein brauner Papierumschlag sollte wohl zu seinem Schutz dienen, tat seinen Dienst aber eher schlecht als recht. Ein paar Ecken waren umgeknickt und die untere Kante war leicht abgestoßen. Es sah so aus, als ob es schon oft gelesen worden wäre.
Lilith nahm es in die Hand, um die Seiten zu durchblättern. Sie hatte Bücher schon immer geliebt. Es war kein großes Buch, die Seiten waren dünn und in einer engen, säuberlichen Handschrift beschrieben. Lilith strich vorsichtig die Ecken glatt und fragte sich, welche Bedeutung das Buch für den jungen Mann hatte.
Bestimmt vermisste er es schon.
Bestimmt ärgerte er sich, es liegen gelassen zu haben.
Sie wusste, wie es war, wenn man etwas von persönlichem Wert verlor und nicht wusste, ob man es jemals wiederbekam.
Es war Zeit, die Universität aufzusuchen.